Aber für wen?
Offener Brief an das Deutsche National Theater
Weimar, den 6. November 2014
Sehr geehrter Herr Weber,
25 Jahre, nachdem die innerdeutsche Grenze geöffnet ist, gibt es eine andere, die ihr an Menschenfeindlichkeit um nichts nachsteht. Diese Grenze verläuft nicht durch unsere Wohnzimmer, sie ist hunderte Kilometer entfernt, und die Zehntausenden, die an ihr in den Tod getrieben werden, haben eine andere Hautfarbe, als die Mitglieder der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Was sollte das also mit uns zu tun haben? Und vor allem: Was sollte es mit Gedenken an die „Deutsche Einheit“ zu tun haben?
Vielleicht war es das, was Sie sich gefragt haben, als der Einfall aufkam den Balkon des Deutschen Nationaltheaters mit einem handgemalten Transparent zu schmücken: „Die Grenze ... ist offen“, ist darauf zu lesen. Beworben wird eine Veranstaltung zur Öffnung der innerdeutschen Grenze vor 25 Jahren.
Der Schriftzug, seine Ästhetik und Präsenz im öffentlichen Raum haben bei uns erst Verwirrung, dann Beschämung ausgelöst. Sie platzieren ihn in einer Zeit, in der an den Außengrenzen Europas zu zehntausenden Menschen sterben, die einen Weg aus der Verfolgung, aus menschenunwürdigen Lebensumständen suchen – so wie es bis vor 25 Jahren viele Menschen aus Ostdeutschland getan haben. Sie stoßen an den Landgrenzen der Europäischen Union auf geschlossene Grenzen und Mauern. Sie machen sich auf den Weg über das Mittelmeer, wo man sie zu Tausenden auf dem Weg in eine bessere Zukunft ertrinken lässt.
In Weimar leben rund 240 Menschen mit Fluchterfahrungen und gleichzeitig ungeklärten Aufenthaltstiteln. Aus unserer Arbeit mit ihnen kennen viele von uns ihren Lebensalltag: Sie werden in einem Heim fernab des Stadtzentrums verstaut, leben dort auf engstem Raum zusammen, werden durch zahlreiche Barrieren vom sozialen Leben der Stadt ausgeschlossen und müssen darüber hinaus um das Recht, hier leben zu können, bangen. Jeden Tag können Sie wieder hinter die geschlossene Grenze abgeschoben werden. Was sollen diese Menschen denken, wenn sie Ihren Schriftzug auf dem Theaterplatz lesen?
Vor einigen Tagen hat eine engagierte Gruppe aus Künstler_innen in Berlin auf diese Tragödie aufmerksam gemacht, indem sie Gedenkkreuze an der Spree abmontierte, und deren Duplikate in eine Europäische Grenzregion brachte. Ihre Kollegin Shermin Langhoff, Intendantin des Berliner Maxim-Gorki-Theaters, kommentierte diese Aktion gegenüber der taz mit einer gleichsam einfachen wie treffenden Bemerkung: „Sie nimmt die Vergangenheit als Auftrag ernst.“
Ganz unabhängig davon, was man von der hier erwähnten Aktion hält (wir finden sie toll!): Ein solches Verständnis von Geschichte wird durch den Schriftzug an ihrem Haus nicht deutlich. Welchen Wert kann es haben, sich über die Öffnung der innerdeutsche Grenze zu unterhalten und diese zu feiern, wenn die Toten neuer Grenzen dabei ausgeblendet werden? Welchen Wert kann es haben, die ehemalige Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen einzuladen, wenn nicht darüber gesprochen wird, dass wir längst in einem viel umfassenderen System der Überwachung leben, dass das Potenzial für noch größeres Unheil bietet?
Ihr Banner am Balkon des DNT beleidigt die zehntausenden Todesopfer an den geschlossenen Grenzen Europas und uns, die wir uns für sie einsetzen. Wir wollen die alljährlichen Jubiläen weder ignorieren noch verharmlosen; im Gegenteil: wir wollen sie zum Anlass nehmen, um auf die aktuellen politischen Geschehnisse an Europas Außenmauer aufmerksam zu machen. Deshalb haben wir uns das Recht herausgenommen den zynischen Ausruf um eine Botschaft, die der europäischen Gegenwart gerecht wird, zu ergänzen. Beginnen Sie, sich vom in Weimar viel zu gewöhnten Gedenken um des Gedenkens willen zu lösen und Geschichte als einen Handlungsauftrag für die Gegenwart zu begreifen. Nutzen Sie das Theater verstärkt als einen Ort der sozialen Innovation und kritischen gesellschaftlichen Diskussion.
Mit freundlichen Grüßen,
die Initiative für Flüchtlinge Weimar
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